V.V. BYCHKOV

Ästhetische Prophezeihungen des russischen Symbolismus

(XIVh International Congress of Aesthetics. «Aesthetics as Philosophy». Ljubljana 1998. Proceedings. Part II. Selected Papers. - Filozofski vestnik. - 2/1999 - Supplement. - Ljubljana, 1999. - P. 237 - 245.)

Der russische Symbolismus erreichte um 1910 seinen Höhepunkt und hatte zwei Richtungen, die wir bei vielen seinen Vertretern eng miteinander verflochten finden:
1. Symbolismus als Kunstrichtung und 2. Symbolismus als Weltbild, als eine Weltanschauung, eine bestimmte Lebensphilosophie. Diese Verflechtung läßt sich bei Vjaceslav Ivanov und Andrej Belyj besonders deutlich erkennen, obwohl die zweite bei beiden oft überwiegt. Das ist für den russischen Symbolismus im allgemeinen kennzeichnend.

Die wahre Kunst sei immer symbolisch – so lautete die wichtigste Entdeckung, die vom Symbolismus gemacht wurde. Andrej Belyj sah den Sinn des Symbolismus als einer ästhetischen Theorie darin, daß die Symbolisten “begriffen hatten, daß die Kunst durch und durch symbolisch ist”[1]. Dabei war das Symbol für die Symbolisten ein polysemisches Phänomen, ein vermittelndes Element zwischen der materiellen, sinnlich empfindbaren Welt und der Welt des Geistes, der Noetik. Für Vjaceslav Ivanov waren die Symbole keine menschliche Erfindung, sondern eine von Gott ausgehende Emanation, eine Ausstrahlung, die von oben her niederkommt (also ihrer Herkunft nach göttlich!); sie seien Zeichen, die Einiges von der göttlichen Wirklichkeit erkennen lassen. Sie führen ihr selbständiges Dasein und haben viele Bedeutungen, die auf verschiedenen Ebenen des Seins und des Bewußtseins entsprechend unterschiedlich sind. “Jedes wahre Symbol – so Ivanov – ist eine Verkörperung der lebendigen Wahrheit Gottes”, also eine Realität, ein “wirkliches Leben”, das aber nur “relativ existiert” und im Verhältnis zu anderen Daseinsebenen nur “relativ ontologisch” (im Verhältnis zu den niedrigeren Ebenen) oder “meonisch” (d.h. “nicht-seiend” im Verhältnis zu den höheren) ist. Das Symbol sei eine Mittelgestalt ohne konkreten Inhalt, sie diene zur Vermittlung jener Realität, die “bald erglimmt, bald wieder erlischt, ein Medium für durchströmende Erscheinungen Gottes” (II, 646-647)[2].

Für Andrej Belyj ist das Symbol eine Hülle, die ihr Inneres verschleiert und vor profaner Eindringung schützt. Das Geheimnis wird nur jenen eröffnet, die es verstehen können. Das Symbol sei “ein Fenster zur Ewigkeit” (2, 212) und ein Weg zu dem Symbol (mit dem bestimmten Artikel), unter welchem Belyj die absolute geistige Realität versteht: En, Christus, Sophia oder Gott überhaupt. Der Symbolismus wird von ihm daher als ein speizfisch geistiges System konzipiert, das weit über der Gnoseologie und der Ontologie steht und die Entdeckungen beider auf der ästhetischen Ebene synthesiert.

Diese Symbolkonzeption Belyjs setzt in vieler Hinsicht, wenn auch unbewußt, die Tradition der Kirchenväter von Alexandria und Kappadozien fort, wo schon in der Spätantike ein umfassendes System des Symbolismus entwickelt wurde, das auf dem von Klemens von Alexandria formulierten Prinzip basierte: “verschleiernd entschleiern”[3].

Der Symbolismus als Begriff war für seine Theoretiker mehrdeutig. Das war die Theorie der symbolischen Selbstäußerung der Welt des Geistes durch die Kunst, der Weg in diese Welt des Geistes, im Endeffekt also zu “dem Symbol” selbst, und eine besondere Art des Seins zwischen der materiellen und der geistigen Welt.

Laut Ellis (L. Kobylinskij) habe der Symbolismus die Methode der “kontemplativen Komprehenz” vollkommen beherrscht sowie auch gelernt, “diese Durst nach dem letzten Geheimnis, diese Sucht nach Grenzenlosem bis ins Höchste zu treiben” (194)[4]. Die symbolische Leiter der Erkenntnis Stufe für Stufe besteigend, entwickelt der symbolisierende Geist in sich “unvermeidlich das Streben nach Erkenntnis desjenigen Großen Symbols, das sozusagen das Symbol aller Symbole ist, das sie alle miteinander verbindet und voneinander löst, sie vorbedingt und verursacht. Das Große Symbol hält sie zusammen und bedingt damit auf eine geheime Art und Weise auch sich selbst vor. Jeder Symbolist kennt diese inbrünstige Sehnsucht nach dem Ursymbol; sein leichtes Glimmern ist wahrscheinlich gerade das Leitmotiv zum Aufbau aller anderen Symbole” (194).

Die Geschichte der geistigen Kultur im christlichen Raum “kommt wieder herum an den Ort, da sie anfing”. Nach Jahrhunderten der Säkularisierung und der Mode für Naturwissenschaften, Positivismus und Materialismus kommt die Kultur – diesmal in ihrem säkularisierten Teil (weltliche Kultur) – im 20. Jh., am Beginn des Aufschwungs supertechnologischer Zivilisationsprozesse, zur Notwendigkeit eines absoluten Urgrundes des Daseins, eines geistigen Ur-Antriebs der Welt, kurz gesagt zur Notwendigkeit des alten guten Gottes zurück, der in der Sprache der neuen künstlerischen Reflexie Ursymbol, Großes Symbol oder einfach das Symbol genannt wird. Das ändert nichts an seinem geistigen Inneren. Der Symbolismus tendierte – in Person seiner führenden Vertreter im Westen wie in Rußland – zurück zur traditionellen Geistigkeit, wenn auch etwas modernisiert im Sinne der neuen Zeit.

Der Symbolismus stellte, so Belyj, eine mehrdimensionale, polyphänomenale Welt des geistigen und materiellen Daseins des Menschen als eine Grenzsituation zwischen dem Wesen und seiner Erscheinung, zwischen Leben und Tod, zwischen Vergangenheit und Zukunft dar. Das Moderne, d.h. das Symbolische – also vor allem die Kunst als Quintessenz des Symbolismus – “eröffnet sich der Zukunft entgegen, die sich tief in uns selbst verbirgt; wir lauschen nach Lebenszeichen des neuen Menschen in uns – und wir lauschen nach Tod und Verfall; wir sind tot, und das alte Leben verfällt an uns – und wir sind noch ungeboren, unsere Seele ist zukunftsträchtig, décadence und renaissance kämpfen noch in ihr gegeneinander” (2, 222). Für Bely ist der Symbolismus die einzig mögliche Lebens- und Denkweise am Grenzpunkt zwischen Leben und Tod der Kultur und der Menschheit selbst. Daraus folgt auch der Inhalt der neuen Kunstsymbole: entweder das Licht, “der endgültige Sieg der wieder auflebenden Menschheit, oder die hoffnungslose Finsternis, Verfall, Tod” (2, 222). So erkannte Belyj schon am Anfang des 20. Jh. das Wesentlichste im geistig-künstlerischen Mythologem dieses letzten Jahrhunderts unseres Jahrtausends, und er gab ihm diesen allumfassenden Namen: Symbolismus.

Die russischen Symbolisten spürten diese innere Widersprüchlichkeit des Symbolismus, als er noch in seiner Blütezeit war; sie sprachen sogar von seiner Krise und sahen darin ein Abbild der allgemeinen Krise der Kultur. Für Ellis bedeutete diese Krise jedoch beiweitem noch keine “Agonie und Tod” des Symbolismus, wie es damals viele Kritiker behaupteten. Das wäre dann “der Tod aller Kultur und das Ende jeglichen Ideenlebens, was undenkbar ist” (279)[5]. Auch der Ausweg aus dieser Krise wurde von den Symbolisten selbst gefunden, z.B. von Brjusov als Vertreter des “klassischen” (d.h. rein künstlerischen) Symbolismus in seinem Artikel von 1905 (“Das heilige Opfer”) oder von Belyj in mehreren seinen Schriften. Der Ausweg sei: der Ausbruch der Kunst über ihre Grenzen hinaus in das Leben selbst. Der Symbolismus soll sich nicht nur als eine literarische “Schule”, sondern vor allem als “Dienst” für die Menschheit auf ihrem Wege zu höheren Ebenen der geistigen Kultur und des Daseins im Ganzen verstehen – so lautete das Credo des Symbolismus, das ihm von seinen Autoren schon 1904-05 verschrieben und zum Teil (bes. von Andrej Belyj) auch realisiert wurde.

V. Ivanov hielt zwei Arten von Symbolismus auseinander: den realistischen Symbolismus, der für ihn wesentliche (reale), zeitlose Grundlagen von Dingen und Erscheinungen repräsentierte, und den idealistischen, der nur die ästhetisierenden Fantasierereien des Künstlers verkörperte, der sich für die Wesentlichkeiten des Daseins gar nicht interessiert. Der idealistische Symbolismus, d.h. jener, der damals gerade in Westeuropa dominierte und von den russischen Symbolisten zum Teil übernommen wurde, führe – so Ivanov – zum “großen weltweiten Idealismus”. Darunter sei der immer zunehmende Individualismus, der Subjektivismus und die Entfremdung der Menschen voneinander, ihr Auseinanderleben als Resultat der “Ablehnung allgemeingültiger Realnormen des Mitdenkens und Mitfühlens” zu verstehen (553).

Jetzt, am Ende des 20. Jh., erkennen wir die Ergebnisse solcher Entwicklung der humanitären Kultur und die Verwirklichung vieler Mahnungen Ivanovs besonders deutlich. Die humanitäre Kultur und die sich damit auseinandersetzenden Wissenschaften verwandeln sich in unserer Zeit in vieler Hinsicht in ein (konventionelles) “Glasperlenspiel”, das auf ästhetischen Spielregeln basiert, welche ihrerseits von einer oder anderen Gruppe von Getreuen willkürlich festgelegt werden. Da heute aber sogut wie jeder eigene Spielregeln einführen darf, zerfällt die Gemeinschaft der Künstler und Intellektuellen in unzählige fast hermetisch verschlossene Gruppen und Grüppchen, die die “Spielsprachen” der anderen kaum verstehen und eigentlich nicht verstehen wollen. So weit hat sich also jene Kraft heute entwickelt, die von Ivanov als “idealistischer Symbolismus” bezeichnet wurde.

Für russische Symbolisten hatte nur der realistische Symbolismus eine historische Perspektive. Ivanov sah in ihm nicht eine Spielerei des ästhetisierenden Bewußtseins, sondern ein bewußtes Streben nach der “objektiven Wahrheit des Seins”, und diese Wahrheit liege für ihn im Mythos, der eine höhere Form der Realität als die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit darstelle (554).

Für Andrej Belyj bestand “das Neue” der symbolischen Kunst in der “überwiegenden Präsenz des Alten”, d.h. der antiken und mittelalterlichen Mystik des Orients sowie auch des Abendlandes in ihr (1, 55; 142-143). Alles Vergangene sei in die moderne Kunst mit eingegliedert, meint Belyj. “...Wir erleben jetzt in der Kunst alle Epochen und alle Nationen wieder; das vergangene Leben saust vor unseren Augen. Das ist so, weil wir an der Schwelle einer großen Zukunft stehen” (1, 143). Dieser Pathos der “großen Zukunft”[6], den wir auch bei anderen Symbolisten sowie bei vielen Vertretern der russischen Avantgarde und der “religiösen Renaissance” der Jahrhundertwende erkennen, ergab sich aus jener geistig-religiösen Ausrichtung der Kultur und Kunst, die damals wiederentdeckt und in vieler Hinsicht neu konzipiert wurde. Kurz vor Beginn der stürmischen Welle des antireligiösen wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des allumfassenden Konsumterrors des 20. Jh. sahen viele Vertreter des “silbernen Jahrhunderts” (Belyj, Kaondinskij, Florenskij waren darin einig) neue Perspektiven der geistigen Kultur vorwiegend in einer neuen Vereinigung von Kunst und Religion (ob traditionell oder neu konzipiert, spielt ggf. keine Rolle).

Der Postmodernismus, der in der europäischen und amerikanischen Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jh. dominiert, kann hier stolz vermerken (und tut das oft auch), daß sich alle Kulturen und Künste der Vergangenheit in ihm vereinigt, vermischt und verflochten haben, und zwar in einem höheren Maße und mit viel größerer Freiheit und Fantasie als im Symbolismus (natürlich). Der Pathos des künftigen geistigen Wiederauflebens der Kultur, den wir bei Symbolisten erkennen, wurde im Postmodernismus jedoch mit einer alles zermürbenden Ironie oder einem bewußt zukunftsindifferenten Herumspielen des ästhetisierenden Bewußtseins mit allen Formen der früheren Kulturen und Künste ersetzt. Das Jahrhundert ist (wie auch die ganze Kultur) alt geworden und hat die Träume und Hoffnungen seiner Jugend gelassen.

Eine besondere Aufmerksamkeit genossen bei Symbolisten verbale Symbole, die als Träger der Energie der von ihnen symbolisierten Archetypen verstanden wurden. Viele große russische Symbolisten waren da einer Meinung. Sie wandten sich an alte Zaubersprüche und magische Formeln, um die sakrale Magie des Symbols (vor allem des verbalen Symbols) in ihrem Schaffen wieder zu beleben. A. Belyj ist überzeugt, daß das Aussprechen des Namens eines Gegenstandes seine ontologische Realität, sein Dasein bestätigt. Das erfordert eine besondere Sensibilität gegenüber dem sprachlichen Element des Verbalsymbols und zu den Neologismen. Belyj wiederholt seine Gedanken über die magische Kraft des Wortes, über das Wort als “Beschwörung der Dinge”, als “Evokation Gottes” mehrere Male, um uns seine reale Vorstellung von der starken Energie des Wortes zu vermitteln: sie läßt sich nicht verbalisieren, bezaubert aber jeden Lyriker und überhaupt jeden, wer die Gabe der poetischen Empfindung der Welt besitzt.

Im gleichen Sinne sei auch Belyj’s Worte zu verstehen, daß “das Ziel der Poesie die Erschaffung der Sprache” sei; “die Sprache ist das Schaffen der Lebensverhältnisse selbst”, d.h. ein Durchbruch durch den Rahmen der Kunst als solchen in den Bereich des realen Lebens, ein Ausbruch über die Grenzen der reinen Ästhetik hinaus – davon ist Belyj fest überzeugt.  In diesem Falle wird sogar ein “zielloses Spiel mit den Wörtern” sinnvoll: “die Vereinigung von Wörtern unabhängig von ihrem logischen Sinn miteinander ist das Mittel, mit dem sich der Mensch vor dem Drang des Unbekannten schützt” (1, 234). Belyj äußert damit einen für die damalige Zeit eher erstaunlichen, aber trotzdem prophetischen (sogar hellseherischen) Gedanken, in dem das Credo der im 20. Jh. praktisch dominant gewordenen Richtung der künstlerischen Kultur formuliert wird. Schon ein paar Jahre später findet dieses Prinzip in Rußland (von Belyj’s Konzeption zwar fast unabhängig) eine aktive Verwendung in der Literatur, und sehr bald erreicht es seinen logischen Maximum in der Paradoxie von Krucenych, Burljuk, Chlebnikov und anderen Futuristen (in ihrer skandalös berühmten “zaum” – “Klügelei”[7]); erst in den 30-er Jahren wird dies alles zwangsläufig unterbunden. D. Charms und die OBERIUten waren die letzten in dieser Reihe[8]. Im Westen wurden solche Praktiken von Dadaisten und Surrealisten aktiv erprobt, und später wurden sie von der Literatur des “Bewußtseinsstroms” und vom “absurden Theater” weiter getragen. Andrej Belyj hat dieses globale Prinzip der modernen Kunst als einer der ersten formuliert – und als einer der ersten zu verwenden begonnen, zuerst mit Vorsicht, in seinem Schaffen in den ersten Jahren des 20. Jh. Kein Zufall, daß moderne Literaturtheoretiker ihn als einen “Vater des Futurismus”[9] und Vorläufer des “modernistischen” Romans bezeichnen, in einer Reihe mit James Joyce[10].

In seiner Spätzeit versuchte Belyj das Symbol sogar als die dritte, in-die-Tiefe-gehende Dimension des Dogmas (im allgemeinen und nicht nur im religiösen Sinne) im Geiste des anthroposophischen Astralgeometrismus zu konzipieren[11]: “...im Symbol ist das Dogma kein Kreis, sondern ein aus der Spiralbewegung entstehender Drehkegel; die Evolutionslinie wird in diesem Kegel des Dogmatosymbols mit der Kreisebene und den in sie eingeschriebenen Figuren gebildet, die von einem einzigen, als erster vorgegebenen Punkt ausgeht und immer höher steigt... Alle Punkte aller Linien dieser Kreise und Ebenen strömen mit der Zeit und schwellen langsam an; in der ursprünglichen Spitze des Kegels ist der Augenblick der Ewigkeit konzentriert; das Licht erfüllt den ganzen Kegel – und jagt, und plagt das Dogma in seiner Drehbewegung, und das Dogma flieht, und zieht, und eröffnet sich in den Inkarnationen der Zeit. Der Symbolismus ist die Tiefe des Dogmatismus und das Wachstum der dogmatischen Wahrheiten” (3, 292). Diese exstatische Theorie des russischen Anhängers der Anthroposophie, der sich erst von einer meditativen Trance erholt hat, sieht wie eine sinnlose magische Formel aus (obwohl sie logisch durchdacht und mit einer graphischen Zeichnung belegt ist), enthält aber jene wunderbare Magie der Worte (seine poetische Glossolalie), die Belyj als Theoretiker so oft propagierte und als Praktiker sehr gut beherrschte. Ihre scheinbare Sinnlosigkeit beinhaltet in Wirklichkeit den Schlüssel zu der großen Welt der Kunst der geometrischen Abstraktionen, die bei der russischen (sowie auch von der westlichen) Avantgarde als Kubismus, Futurismus, Kubofuturismus, Suprematismus, Strahlenkunst, Kinetismus usw. ihren Ausdruck fand. Ob sich Belyj dessen selbst bewußt war, ist heute schwer zu sagen; wir finden in solchen seinen Theorien-Formeln jedoch jene tiefen Grundlagen, auf welchen viele Avantgardisten am Anfang des 20. Jh. ihr praktisches künstlerisches Schaffen aufbauten.

Zu einer spezifisch russischen Besonderheit des Symbolismus wurde die Theorie der Theourgie als Grundprinzip der zukünftigen Kunst. Der Begriff Theourgie (griech. qeourgia – göttliches Werk, sakraler Ritus, ein Mysterium) hatte im Altertum den Sinn eines sakral-mysterialen Verkehrs mit der Welt der Götter im Prozeß bestimmer Ritualhandlungen. V. Solovjov verstand die Theourgie als eine uralte “substantielle Einheit des von der Mystik begeisterten Schaffens”, und ihr Sinn bestand für ihn in der Vereinigung des Irdischen und des Himmlischen im Akt des sakralen Schaffens. Eine besondere Bedeutung maß er der künftigen Entwicklungsetappe der Theourgie bei, die er als “freie Theourgie” oder “integres Schaffen” bezeichnete. Das Wesentlichste dieser Etappe lag für ihn in einer bewußten mystischen “Kommunikation mit der höheren Welt durch das innere Schaffen” auf der Grundlage einer organischen Einheit der wichtigsten Bestandteile des Schaffens überhaupt, d.h. der Mystik, der “schönen Künst” und des “technischen Wirkens”. Diese Vorstellung von der Theourgie fand bei Symbolisten sowie auch bei den meisten religiösen Denkern Anfang des 20. Jh. in Rußland einen aktiven Widerhall.

V. Ivanov verwies ganz besonders auf den Gedanken von V. Solovjov, daß die Kunst der Zukunft eine neue freie Beziehung zur Religion herstellen soll. “Die Lyriker und die Maler”, schrieb er, “sollen wieder Priester und Propheten werden, nur aber in einem wichtigeren, im erhabeneren Sinne: sie sollen nicht nur von der religiösen Idee beherrscht sein, sondern auch selbst diese Idee beherrschen und ihre irdischen Verkörperungen bewußt lenken”. Gerade solche Künstler werden von Ivanov Theourgen, Träger der göttlichen Offenbarung genannt. Sie seien die wahren Mythosmacher, die Symbolisten im höchsten Sinne des Wortes.

Auch Andrej Belyj schenkte der Theourgie als höchste Etappe des Schaffens, als Erschaffung des Lebens mit Hilfe der göttlichen Energie der Sophia und des Ursymbols eine große Aufmerksamkeit. Bis zu seinem Lebensende blieb er seinem künstlerischen und menschlichen Credo treu: Der Symbolismus habe den Sinn der menschlichen Geschichte und Kultur als theleologisches Streben nach Verkörperung des transzendenten Symbols im realen Leben eröffnet.

Eine sehr klare und deutliche Definition der Theourgie finden wir bei dem russischen Philosophen Nikolaj Berdjajev in seinem Buch “Der Sinn des Schaffens: Versuch einer Rechtfertigung des Menschen” (1912): “Die Theourgie schafft nicht die Kultur, sondern ein neues Dasein, die Theourgie ist über jegliche Kultur erhaben. Die Theourgie ist eine Kunst, die einer anderen Welt, einem anderen Sein, einem anderen Leben und Schönheit eine Existenz verleiht. Die Theourgie überwindet die Tragödie des Schaffens und zielt die schöpferische Energie auf ein neues Leben auf.” Jegliche traditionelle Kunst und Literatur, jede Teilung des Schaffens findet in der Theourgie ihr Ende; mit ihr endet die traditionelle Kultur als Menschenwerk und beginnt die “Superkultur”, weil die Theourgie ein “Zusammenwirken von Mensch und Gott” sei, also “ein göttliches Schaffen, ein gottmenschliches Werk”. Viele russischen Symbolisten sahen den Sinn des Symbolismus und sein Endziel – die Theourgie – gerade darin.

Das 20. Jh. gab uns bisher, wie es scheint, noch keinen unzweideutigen Beweis, daß die Symbolisten und die russischen Religionsphilosophen recht hatten. Es wäre m.E. aber viel zu früh, ihre Prophezeihungen und Hoffnungen zu vergessen. Die Krise der Kultur, die so viele Vertreter des “silbernen Jahrhunderts” der russischen Kultur ganz deutlich gespürt hatten, ging tiefer und weiter, als es sich die optimistischsten unter ihnen hatten vorstellen können. Laßt uns jedoch hoffen, daß sie ein Übergang und kein Untergang ist.



[1]Andrej Belyj’s Werke werden nach folgenden Quellen zitiert: 1. Belyj, A. Kritika. Estetika. Teorija Simvolizma. Bd. 1. Moskau, 1994; 2. ibid., Bd. 2; 3. Belyj, A. Simvolizm kak miroponimanije. M., 1994.

[2]Die Texte von Vjaceslav Ivanov werden zitiert nach: Ivanov, Vjac. Sobranije socinenij. Brussel, 1974. In Klammern werden der Band und die Seite genannt.

[3]Mehr vom Symbolismus der Kirchenväter und Byzanz s.: Byckov, V. AESTHETICA PATRUM. Bd. 1, S. 241-243; Byckov, V. Malaja istorija vizantijskoj estetiki. S. 80-92.

[4]Ellis wird (mit der Angabe der Seiten) nach folgender Ausgabe zitiert: Ellis. Russkije simvolisty: Konstantin Balmont, Valerij Brjusov, Andrej Belyj. Tomsk, 1996.

[5]Was einem russischen Symbolisten am Anfang des Jahrhunderts “undenkbar” erschien, sieht am Ende dieses Jahrhunderts durchaus real aus. Die moderne POST-Kultur bietet ein unverkennbares Vorzeichen davon, wenn nicht die Tatsache selbst. (Mehr über die POST-Kultur s.: Byckov, V. Iskusstvo nasego stoletija. In: Kornevisce. Kniga neklassiceskoj estetiki. M., 1998. S. 111-186; Bychkov, V. The art of our century. In: KornewiSHCHe. A Book of Non-Classical Aesthetics. Moscow, 1998. P. 49-164; 194-198.

[6]Man soll jedoch nicht vergessen, daß sich dieser “Pathos” bei Belyj aus seinem anhaltenden Gefühl einer globalen Krise (einer Umwendung) der Kultur, des Weltbildes, des Bewußtseins und des menschlichen Lebens überhaupt entwickelte, was sich in seinen apokalyptischen Prophezeihungen und Stimmungen, bes. in der Zeit des 1. Weltkrieges, deutlich erkennen läßt (s. seine vier “Krisen” – “Die Krise des Lebens”, “Die Krise des Denkens”, “Die Krise der Kultur” und die etwas später geschriebene “Krise des Bewußtseins”). J. Niva sieht den Kern und das Haupträtsel des gesamten Schaffens von Andrej Belyj überhaupt in seiner “apokalyptischen Weltauffassung” (Istorija russkoj literatury. XX vek. Serebrjanyj vek. S. 110). In seinen “Aufzeichnungen eines Sonderlings” erzählt Belyj z.B. die apokalyptische Vision, die er in seiner Jugend in einer Kirche zu Ostern erlebt und später im anthroposophischen Sinne symbolisch interpretiert hat: “Als ob die Kirche mit einer Wand ins Nichts fiel; ich sah das Ende (meines Lebens oder der Welt? – weiß ich nicht), als ob der Weg der Geschichte mit zwei Kuppeln endete: eine Kirche – und die Menschenmassen, die dahinströmten; als ob Abgeordnete der ganzen Menschheit, in Glanz und Bysson gekleidet, dehnten sich aus, durch Klang und Farben, ins alles beendende Nichts” (Belyj, A. Zapiski cudaka. Bd. 1. Berlin, 1922, S. 96). Mehr über die Apokalyptik im Belyj’s Symbolismus s. Cioran, S. The apocalyptic symbolism of Andrej Belyj. The Hague, 1973.

[7]Das klassisch gewordene Vers “Dyr bul scyr” von Krucenych wurde Ende 1912 aus völlig “unbekannten” Wörtern zusammengestellt. Mehr vom Einfluß A. Belyjs auf die Experimente russischer Dichter im 1. Drittel unseres Jahrhunderts siehe u.a. den interessanten Artikel: Ivanov, Viac. Vs. O vozdejstvii “esteticeskogo eksperimenta” Andreja Belogo (V. Chlebnikov, V. Majakovskij, M. Cvetajeva, B. Pasternak) in: Andrej Belyj. Problemy tvorcestva. Statji. Vospominanija. Publikacii. M., 1988, S. 338-366.

[8]Genauer davon s. bei: Jacquard, J.-F. Daniil Charms i konec russkogo avangarda. St.Pb., 1995.

[9]S.: Chizhevskii, D. Anfänge des russischen Futurismus. Wiesbaden, 1963, S. 9.

[10]Mehr davon: Woronzoff, Al. Andrej Belyj’s “Peterburg”, James Joyce’s “Ulysses” and the Symbolist movement. Bern, 1982; Weber R. Der moderne Roman: Proust, Joyce, Belyj, Woolf und Faulkner. Bonn, 1981.

[11]Vgl. die Versuche R. Steiners, die Urbilder der Kunst als geometrisierte geistige Konstruktionen zu beschreiben (seine Vorlesung zum “Wesen der Künste”, u.a. in: Steiner, R. Iz oblasti duchovnogo znanija, oder antroposofii. M., 1997, S. 336 ff.).